Montag morgen, 23. März 2020. Soeben bin ich in der Praxis angekommen. Es sind weniger Patienten eingeschrieben als sonst. Meistens ist es schon recht voll, oft ist alle 20 Minuten ein Patient eingeschrieben.

Heute ist es anders. Anstelle von Konsultationen sind viele Telefonate eingeschrieben. Viele wünschen einen Rückruf von mir. Und meistens geht es um das neue Corona-Virus. Viele Menschen sind verunsichert, sei es weil sie selber Erkältungs- oder Grippesymptome haben. Sei es, weil in ihrem Umfeld bereit Positiv-getestete sind, mit welchen sie Kontakt hatten. Oder aber, dass sie z.B. mit jemandem nahe zusammenleben, welcher alt ist und/oder einer Risikogruppe mit Vorerkrankungen angehört.

Und natürlich auch, weil die aktuelle Berichterstattung in den Medien einerseits kaum mehr andere Themen als das Corona-Virus beinhaltet, und weil anderseits viele Ängste geschürt werden.

Es ist für mich als Arzt in dieser Situation recht herausfordernd. Einerseits ist da meine eigene innere Haltung. Ich persönlich mache mir wenig Sorgen darüber, angesteckt werden zu können. Das ist vielleicht in der aktuellen Situation in einer Arztpraxis von Vorteil. Dann kommen viele neue Regeln hinzu, wie man sich in welcher Situation zu verhalten hat. Corona-Bestätigte sollen in Selbstisolation gehen. Das Bundesamt für Gesundheit und die ärztlichen Gesellschaften haben alles genau definiert. Wer prinzipiell getestet werden soll und implizit auch, wer nicht. Wie sich der Betroffene verhalten soll. Wie das Vorgehen in der Praxis aussehen soll. Und noch einiges mehr.

In dieser Situation mit sich täglich ändernden Empfehlungen und Vorschriften sowie einer Flut an täglich per E-Mail eintreffenden Dokumenten ist es schwierig, eine Übersicht zu behalten.

Eine junge Frau meldet sich am Telefon. Sie hat Erkältungssymptome. Nasenlaufen, Halsweh, wenig trockenen Husten. Kein Fieber. O.k., eher geringe Wahrscheinlichkeit für Corona. Oder? Soll sie deshalb zu Hause bleiben? Eher ja. Gefährdet sie allenfalls ältere Mitmenschen zu Hause? Vielleicht. Vielleicht ist es doch Corona, wer weiss? Seit ich drei Tage zuvor einen 50-jährigen, sonst gesunden Herrn gesehen habe, welcher leichten Reizhusten seit drei Wochen hatte, sonst keine Symptome. Dem ich aber trotz allem einen Nasenrachen-Abstrich entnommen habe. Und am nächsten Tag kam der Bericht: Corona-positiv.

Langsam beginnt mir zu dämmern, dass in unserer Umgebung viele Menschen mit wenigen, untypischen oder gar keinen Symptomen sind, welche durchaus Träger und auch Überbringer des Virus sein können. Ist eine solche Situation überblick- und kontrollierbar? Wohl kaum.

Eine andere, ebenfalls junge Dame um die 30 herum meldet sich. Sie habe zwar nicht richtig Atemnot, aber Schmerzen auf der Brust beim Atmen. Auch kein Fieber. Soll sie einfach zu Hause bleiben? So wie es angeraten wird? Inwiefern soll sie auch andere vor sich selber schützen? Es kann eine „normale“ Grippe sein. Oder eben das Corona-Virus. Also doch zu Hause bleiben, sich isolieren, 10 Tage mindestens.

Hmmm. Aber haben denn aktuell alle Menschen mit Atemwegssymptomen eine Infektion? Nein. „Rauchen Sie? Nehmen Sie die Pille?“. Nein. Ja. Also. Eine Lungenembolie ist in dieser Situation und in diesem Alter nicht ausgeschlossen. „Kommen Sie in diesem Fall vorbei“. Wir werden sie dann mit den entsprechenden Vorsichtsmassnahmen (Mundschutz für beide Seiten, Handschuhe, Schutzbrille und Mantel für mich) hier empfangen, in einem separaten Zimmer. Sie muss zuvor an der Türe läuten und jemand bringt ihr dann die Maske, bevor sie eintreten darf. Beim Eingang steht eine Flasche mit Desinfektionsmitteln für die Hände.

Am nächsten Tag, Dienstag morgen. Die Sprechstunde ist gut besetzt. Einige Leute mit Atemwegssymptomen möchte ich gerne sehen. Weil mir aufgrund der Telefonate nicht klar ist, worum es sich handelt. Und auch weil es ohne „Kontakt“ schwierig ist, den Zustand eines Menschen einzuschätzen. Ich möchte nicht warten, bis die Situation ausser Kontrolle ist. Bestehen Anzeichen einer Pneumonie? Mit dem Stethoskop höre ich nichts aussergewöhnliches, aber das muss nichts heissen. Gerade z.B. bei einer viralen Lungenentzündung muss man nicht unbedingt etwas hören. Ausserdem, es ist ja nicht so, dass wir nun wegen des Virus keine bakteriellen Lungenentzündungen mehr erleiden. Oder es kommt beides zusammen…

Inzwischen ist es Freitag. Ein wenig hat sich die Situation beruhigt. In dieser Woche habe ich viele Arbeitsunfähigkeits-Zeugnisse ausgestellt. Und auch einige Bescheinigungen, dass der betreffende Patient einer Risikogruppe angehört, welche im Falle einer Corona-Erkrankung einen schwereren Verlauf haben könnte. Hier zeigt sich auch die Schwierigkeit solch einschneidender Massnahmen wie derjenigen, Risikogruppen müssten zu Hause bleiben. Es gibt nur Schwarz oder Weiss. Risikogruppe ja, Risikogruppe nein. Ein Mann um die 40, bei dem ich letzthin einen Diabetes festgestellt habe, fragt um ein solches Attest an. Hmmm. Der Diabetes ist unter nicht-medikamentösen Massnahmen (mehr Bewegung, Diät, Gewichtsabnahme) völlig verschwunden, es bestehen keine bisher feststellbaren Organschäden. Gehört der zur Risikogruppe? Aus meiner Sicht: Nein. Aber wie gehe ich jetzt mit dieser Situation um? Er hat Angst, sieht sich selber als Risiko-behaftet.

Am Morgen kommt noch ein Mann mittleren Alters, mit einem entzündeten „Pickel“ am Rücken. Sieht zwar chronisch aus, ein Abszess, aber dünkt mich nicht so extrem. Keine klaren Zeichen von viel Eiter. Dann macht ein Schnitt wenig Sinn. Lieber Zugsalbe und Teebaumöl. Ich glaube aber, dass sich ein Eröffnungsschnitt trotzdem lohnen könnte. Und dann entleert sich endlos stinkendes Material aus der Wunde. Gut. Hmmm. Es ist doch nicht immer alles so eindeutig oder klar wie es scheinen mag.

In dieser Woche waren es einige Menschen weniger, welche in die Praxis kamen. Dafür viel mehr telefonische Beratungen. Was für mich anstrengend ist: Die Menschen suchen Gewissheit, Klarheit, und das (auf eine Weise verständlich) von mir. Sie sind es gewohnt, dass die Wissenschaft und die Medizin das Wissen hat, um die Dinge zu kontrollieren. Das meint man wenigstens oft. Aber natürlich ist dem nicht so. Wir können in einem gewissen Rahmen, entsprechend dem Wissen, das wir uns aneignen, unserer Erfahrung und – vor allem auch – Intuition entscheiden und handeln. Aber die Natur, die Ungewissheit, können wir nicht bis zum Letzten beeinflussen und manipulieren. Darum bin ich froh. Ich glaube, sonst wäre die Welt sehr roboterhaft, und vielleicht auch kalt. Aber – die Tendenz zu dieser Entwicklung besteht ja bereits schon.

Was dazu kommt ist, dass wir alle Ängste in uns haben. Wir haben tief sitzende Themen, Erfahrungen, Verletzungen, Angst vor dem Sterben. Manchmal, vielleicht auch oft, suchen wir dann im Aussen etwas oder jemanden, welcher uns die Unsicherheit wegnimmt. Wir wollen das nicht. Ich erlebe das oft in Gesprächen. Und es ist mir dann auch klar, dass es um etwas tieferes geht, das man nicht einfach so lösen kann. Vielleicht für den Moment mit Worten. Bis dann die nächsten Ängste aus der Tiefe aufsteigen.

Inzwischen ist es Samstag, und für mich war es jetzt ganz interessant, schreibend einen Rückblick auf das Erlebte zu werfen. Erlebt habe ich noch viel mehr, einiges davon habe ich aber auch schon wieder vergessen. Bis ich es dann in einer Situation wieder brauche, und mich erinnern darf.